Generation Alpha: Auf jeden Azubi individuell eingehen

Individualisierung ist ein Megatrend der heutigen Zeit. Das zeigt sich auch in der Arbeitswelt: Die junge Generation hegt einen starken Wunsch nach Individualisierung und Persönlichkeitsentwicklung. Soziologe Henri Chambers erklärt im Gespräch mit Heidi Becker aus der AUBI-news-Redaktion, woher dieser Wunsch kommt und worauf sich Ausbildungsbetriebe einstellen müssen.

Henri Chambers (rechts) sprach mit Heidi Becker aus der AUBI-news-Redaktion
Henri Chambers (rechts) sprach mit Heidi Becker aus der AUBI-news-Redaktion © AUBI-plus GmbH

Heidi Becker: Henri, du bist Soziologe und kennst dich bestens mit Generationenkonzepten und dem Arbeitsmarkt im Wandel aus. Die Alphas sind ja noch sehr jung und treten erst in 2 bis 3 Jahren ins Berufsleben ein. Was wissen wir denn schon über sie?

Henri Chambers: Zentrale Einflussfaktoren sind der gesellschaftliche und politische Zeitgeist, aber auch das Elternverhalten bzw. der Erziehungsstil, sowie technische Entwicklung und Mediennutzungsverhalten. Vieles für Alpha lässt sich aus einem Verständnis für Z ableiten. Eine Besonderheit der Alphas ist ihr ausgeprägter Wunsch nach Individualisierung und Persönlichkeitsentwicklung. 

Woher kommt dieser starke Wunsch nach Individualisierung und Persönlichkeitsentwicklung?

Verschiedene Einflüsse kommen hier zusammen. Zunächst die Elternhäuser. Gentle Parenting und eine bedürfnisorientierte Erziehung liegen im Trend. Die Kinder sind es gewohnt, gefragt zu werden. Sie stehen stark im Mittelpunkt und werden bei Entscheidungen miteinbezogen. Erziehung findet quasi auf Augenhöhe statt.

Dazu kommen die gesellschaftlichen Trends der Selbstoptimierung und des Auseinandersetzens mit dem Thema Persönlichkeit. Tutorials zur perfekten Morgenroutine, Lerntipps, Stress-Hacks u. v. m. sind hier gute Beispiele, ebenso der 16-Personalities-Test. Nach dem Motto „Sei wie und wer du bist!“ wird Individualität gelebt.

Technologie und Mediennutzung stellen einen weiteren wichtigen Einflussfaktor dar. Auf verschiedenen sozialen Medien und Plattformen geht der Trend immer mehr zu hyperindividualisierten Inhalten, die immer weiter durch Algorithmen an das Nutzerverhalten und individuelle Interessen angepasst werden. 

Was heißt das für Ausbildungsbetriebe?

Wie gesagt sind es die Alphas von früher Kindheit an gewohnt, dass auf ihre Bedürfnisse ganz individuell eingegangen wird. Diesen Anspruch an Individualität werden sie auch im Ausbildungskontext stellen.

Ausbilderinnen und Ausbilder müssen auf die individuellen Bedürfnisse ihrer Azubis eingehen, ihre jeweilige Persönlichkeit berücksichtigen, individuelle Entwicklungspotenziale identifizieren und daraus Maßnahmen ableiten. Von der jungen Generation wird das ganz einfach gefordert. 

Wie können Ausbildungsbetriebe dabei vorgehen?

Ausbilderinnen und Ausbilder müssen sich bewusst machen, dass jeder Azubi und jeder Bewerber anders tickt. Und wie jemand tickt, entscheidet im späteren Arbeitsalltag beispielsweise darüber, wie Arbeitssituationen und Prozesse betrachtet werden, welches Verhalten im Miteinander mit Kollegen, Führungskräften und Kunden gezeigt wird, wie jemand kommuniziert, wie belastbar jemand ist, wie jemand mit Veränderungen umgeht und wie interessiert jemand ist, sich neues Wissen anzueignen.

Eine gute Möglichkeit, um die jeweiligen Persönlichkeitseigenschaften und deren individuelle Ausprägung zu erfassen, ist ein Kompetenzmodell. Der Abgleich von Persönlichkeitsprofil und Anforderungsprofil macht individuelle Entwicklungspotenziale sichtbar und ermöglicht es, einen individuellen Entwicklungsplan zu erstellen und daraus passende Maßnahmen wie Trainings, Coachings oder Workshops abzuleiten.

Man kennt das Vorgehen vielleicht schon aus der Fach- und Führungskräfte-Entwicklung oder wenn es darum geht, welcher interne Weg nach der Ausbildung am meisten Sinn macht. Der Wandel der Arbeitswelt fordert allerdings, dass solche Maßnahmen schon viel früher stattfinden. Ganz wichtig ist dabei, dass Ausbilder und Azubis immer wieder ins Gespräch gehen, um die Entwicklung und den Erfolg der Maßnahmen zu reflektieren und bei Bedarf nachzujustieren. 

Für jeden Azubi einen individuellen Entwicklungsplan aufzusetzen, klingt ziemlich aufwändig…

Ja, die betriebliche Ausbildung wird definitiv aufwändiger werden. Wie gesagt ist die junge Generation Hyperindividualisierung aus den verschiedensten Lebensbereichen gewohnt - das will sie auch während der Ausbildung und später im Arbeitsleben spüren. Individuelle Entwicklungspläne quasi wie die „Für dich erstellt“-Playlisten auf Spotify oder die „Das könnte dir gefallen“-Rubrik auf Netflix. Ausbildungsbetriebe sollten deshalb eine Unternehmenskultur schaffen, die die persönliche Förderung und individuelle Entwicklung in den Vordergrund stellt und das zu ihrem Markenzeichen machen. Statt „one size fits all“ sollte das Motto „this one fits only you“ lauten. Indem Ausbilderinnen und Ausbilder auf die Wünsche und Bedürfnisse ihrer Azubis individuell eingehen, erhöhen sie die Chancen auf deren längerfristige Bindung an das Unternehmen. 

Wie kann man sich das konkret in der Praxis vorstellen?

Stellen wir uns einfach mal folgendes Szenario vor: Ein mittelständisches Unternehmen, spezialisiert auf Maschinenbau, steht vor der Herausforderung, geeignete Auszubildende zu finden. Technische Fähigkeiten sind zwar wichtig, reichen allein jedoch nicht mehr aus, um den hohen Anforderungen des Arbeitsalltags gerecht zu werden. Die jungen Mitarbeiter bringen zwar oft hervorragende Schulnoten und technisches Verständnis mit, jedoch fehlt es ihnen an wichtigen Soft Skills wie Konfliktfähigkeit, Kommunikation und Resilienz.

Marie aus dem zweiten Lehrjahr ist fachlich wirklich fit und begeistert bei der Sache. Aber wenn sie eigene Ideen für Prozessoptimierungen in ihrem Team einbringen soll, ist sie überfordert. Auch kommuniziert sie wenig und Aufgaben bleiben manchmal unerledigt liegen. Das führt zu Spannungen im Team. Maries Ausbildungsleitung entscheidet sich, dass sie Marie gerne unterstützen möchten, um die Zusammenarbeit positiv zu gestalten. Auch bei anderen Auszubildenden gibt es immer mal wieder Herausforderungen. Ein spezielles Förderprogramm für Azubis wird entwickelt.

Marie darf die Erste sein, die dieses Programm durchläuft und am Ende gemeinsam mit ihrer Ausbildungsleitung evaluiert und optimiert. Dabei haben sich beide gemeinsam mit Führungskräften überlegt, dass ein fein abgestimmter und persönlicher Entwicklungsplan Sinn machen könnte. Auf Basis der Eigenschaften, Motive und Bedürfnisse von Marie wird mit Blick auf die Anforderungen der Ausbildung und des späteren Berufs reflektiert und gemeinsam in einem Entwicklungsgespräch vereinbart, welche Maßnahmen für Marie einen Nutzen haben könnten. Durch gezielte Trainings und einen erfahrenen Coach lernt Marie, wie sie besser mit ihren Kollegen kommunizieren kann, Konflikte löst und Strategien entwickelt, mit stressigen Situationen besser umzugehen.

Nach einigen Monaten zeigt sich eine deutliche Verbesserung: Marie wird offener und traut sich mehr, mit ihren Arbeitskollegen zu sprechen. Ihre Angst vor Zurückweisung durch andere nimmt ab. Sie traut sich auch, mal Hilfe zu holen. Feedback ihrer Kollegen setzt sie zwischenzeitlich konstruktiv um. Das wirkt sich positiv auf die gesamte Abteilung aus, die nun produktiver zusammenarbeitet. Marie wird selbstbewusster und merkt, dass das Unternehmen ein echtes Interesse an ihr und an der Zusammenarbeit hat. Das motiviert sie. Auch das positive Feedback ihrer Ausbildungsleitung und die Mitentwicklung am Azubi-Programm machen Marie stolz. Hier möchte sie auf jeden Fall beweisen, dass sie eine top Kandidatin für die spätere Übernahme ist.

An solch einem Beispiel sehen wir, dass Soft Skills, persönliches Feedback und maßgeschneiderte Entwicklung entscheidend sind, um beruflich erfolgreich zu sein. Durch gezielte Persönlichkeitsanalyse und entsprechende Entwicklungsmaßnahmen können notwendige Fähigkeiten effektiv gefördert werden.

Was ist dein abschließender Rat für Ausbildungsbetriebe?

Gerade in der Jugend und im frühen Erwachsenenalter sind die Spielräume für Persönlichkeitsentwicklung groß. Individualisierung und Persönlichkeitsentwicklung schon in der Ausbildung anzugehen, ist daher auf jeden Fall sinnvoll und wird immer wichtiger. Zusätzlich dazu, dass es von der jungen Generation einfach gefordert wird, eignen sich solche Strategien auch bei nur „bedingt geeigneten“ Bewerbenden, wenn Ausbildungsbetriebe beispielsweise vor der Frage stehen, ob sie einen Azubi einstellen sollen, bei dem die benötigten Kompetenzen und Eigenschaften nur begrenzt vorhanden sind. Oder in Situationen, wo Ausbilderinnen und Ausbilder erst „on the job“ merken, dass jemand die Anforderungen nicht 100-prozentig erfüllt. Auf jeden Azubi einzeln einzugehen, ist zwar aufwändig, aber es lohnt sich: Individualisierung ist ein ganz wichtiges Bindungsinstrument.

Vielen Dank für das Gespräch!

Über den Interviewpartner

Henri Chambers ist Soziologe (M.A.) mit dem Schwerpunkt Wirtschaftssoziologie. In seinem Studium an der Philipps-Universität Marburg beschäftigte er sich schwerpunktmäßig mit den Themen Generationenkonzepte und Arbeitsmarkt im Wandel (Fokus auf die Generationen Z und Alpha), Arbeits- und Organisationssoziologie sowie Personalmanagement. Seit 2022 übernimmt Henri Chambers projektbezogene Aufgaben in der INFO GmbH - Institut für Organisationen. Seit 2023 ist er als Berater in der Kundenbetreuung und Trainer tätig. Seine Schwerpunkte liegen im Bereich der Auswahlverfahren für Berufseinsteiger und Nachwuchskräfte, Trainings im Bereich der Soft- und Methodenskills für Berufseinsteiger sowie Trainings zu generationenübergreifender Zusammenarbeit.

Literatur-Tipp

Die Generationen Z und Alpha gewinnen, führen, binden“ von Wolfgang Kring, Professor Dr. Klaus Hurrelmann und Henri Chambers. Die zweite, erweiterte Auflage (ISBN 978-3-470-00442-6) erscheint in Kürze.

Ausblick

Das nächste DEUTSCHE AUSBILDUNGSFORUM  findet am 6. und 7. Mai 2025 in Bad Oeynhausen statt. Interessierte dürfen sich schon jetzt auf einen spannenden Austausch und zahlreiche Best Practices von Top-Ausbildungsbetrieben freuen. Infos und Tickets unter www.deutsches-ausbildungsforum.de

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Quellen:

  1. Henri Chambers: Individualisierung und Persönlichkeitsentwicklung in der Ausbildung - 2024 - S. Vortrag auf dem 9. DEUTSCHEN AUSBILDUNGSFORUM

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