Die Zukunft: Generation Alpha im Arbeitsmarkt

Die Generation Alpha steht in den Startlöchern des Arbeitsmarkts. Doch was passiert, wenn eine digital geprägte, hyper-individualisierte Generation auf konservative Unternehmensstrukturen trifft? Psychologe und Trainer Tom Thienelt erklärt im Gespräch mit Heidi Becker aus der AUBI-news-Redaktion, was die junge Generation erwartet, weshalb traditionelle Ausbildungsstrukturen an ihre Grenzen kommen und welche Kompetenzen Ausbildende brauchen, um den Alphas gerecht zu werden.

Interviewpartner Tom Thienelt
Interviewpartner Tom Thienelt © Tom Thienelt

Heidi Becker: Tom, du bist Trainer und Psychologe und hältst regelmäßig Workshops zu diversen Themen mit jungen Berufseinsteigenden. Gerne würde ich mit dir über die Generation Alpha sprechen, die jetzt bzw. in Kürze im Arbeitsmarkt ankommt. Was wissen wir heute schon über diese Generation?

Tom Thienelt: Schwierige Frage! Lass uns hierfür gerne mal einen Schritt zurückgehen. Wenn wir uns die Generationen im Allgemeinen anschauen, sehen wir, dass sich klare Trends abzeichnen. Entscheidende prägende Einflussfaktoren für Generationen sind das Elternhaus, gesellschaftliche Strömungen, technologische Entwicklungen und – besonders bei den jüngeren Generationen – das Medienverhalten. Bei der Generation Alpha (Jahrgänge ab ca. 2010) wird Vieles durch die Erfahrungen der Generation Z vorgeprägt, aber die Alphas wachsen in einem noch stärker individuell-personalisierten, technologisierten und strukturierten Umfeld auf. Besonders hervorheben sollte ich ihren Wunsch nach Individualisierung und Partizipation sowie nach emotionaler Sicherheit.

Woher kommt dieser Wunsch?

Das hat vielseitige Gründe. Ich versuche mal ein paar maßgebliche Faktoren zu erläutern. Erstens: Der Erziehungsstil vieler Eltern hat sich weiterentwickelt. Bedürfnisorientiertes Handeln, Partizipation und eine sehr dialogorientierte Kommunikation sind total im Trend. Kinder werden sprechdenkend einbezogen und erleben früh, dass ihre Sichtweise Gewicht hat. Dieses Aufwachsen auf Augenhöhe formt Erwartungen. Ein pragmatisches Beispiel: Früher haben die Eltern für die Kinder entschieden, wohin die Familie in den Urlaub fährt, welche Klamotten angezogen werden oder zu welchen Ferienveranstaltungen die Kinder geschickt werden. Heutzutage dürfen die Kinder weitestgehend mitentscheiden. Stichwort: Sie werden zur Partizipation erzogen, dürfen selbst aussuchen und sich weitgehend einbringen. Und jetzt schlage ich mal einen Bogen zum Arbeitsmarkt: Jetzt kommen diese jungen Menschen auf den Arbeitsmarkt in teilweise konservative Unternehmen und bekommen auf einmal einen Kulturschock, da Partizipation nur bedingt gelebt wird. Für diese jungen Menschen ist das Prinzip „Dienst nach Vorschrift“ relativ desillusionierend.

Ein weiterer Faktor: Gesellschaftlich haben Selbstreflexion und Selbstoptimierung an Bedeutung gewonnen. In den sozialen Medien erleben die jungen Menschen optimierte Ideale: Der perfekte Körper, die optimale Ernährung, Morgenroutinen, Lernclips, Emotionsmanagement oder Persönlichkeitsmodelle, all das ist allgegenwärtig. Ob die Inhalte dieser Medien für einen durchschnittlichen Menschen realistisch sind, darüber können wir uns streiten. Für die junge Generation sind diese Medien allerdings einer der relevantesten prägenden Einflussfaktoren. Die Botschaft der gezeigten Ideale lautet oft: „Entwickle dich selbst, ganz individuell und perfekt.“

Und noch ein weiterer Faktor, wenn wir schon bei den Medien sind: Medienplattformen sind heute hochgradig personalisiert. Algorithmen liefern Inhalte, die passgenau auf individuelle Interessen zugeschnitten sind. Und jetzt kommt hier das Prinzip der „Filterblasen“ mit ins Spiel: Junge Menschen passen sich nicht mehr so wie früher an ihre sozialen Mitmenschen an. Die mediale Welt passt sich ihnen selbst an. In den Medien werden den jungen Alphas nur Personen gezeigt, welche sich „an die eigenen Interessen, Meinungen und Eindrücke anpassen“.

In den jungen Generationen ist Individualität besonders akzeptiert. In den älteren Generationen jedoch neigen die Menschen zu gemeinschaftlich getragener Kultur, besonders, wenn wir uns die Babyboomer (Jg. 1946 bis 1964) anschauen. Daraus ergibt sich ausreichend Potenzial für kulturelle Schocks und Konfliktpotenzial.

Was bedeutet das konkret für Ausbildungsbetriebe?

Die Alphas sind es gewohnt, dass man ihre Bedürfnisse wahrnimmt und individuell auf sie eingeht. Genau das erwarten sie auch in der Ausbildung. Für Betriebe heißt das: Sie müssen Persönlichkeiten erkennen, erstmal akzeptieren und feinfühlig fördern. Sie müssen Entwicklungswege schaffen, die zur jeweiligen Person passen. Sie müssen sich stärker mit psychologischen Aspekten der Ausbildung beschäftigen. Ausbildende werden immer mehr zu Coaches. Es reicht nicht mehr, nur Fachwissen zu vermitteln. Entscheidend sind persönliche Entwicklung, Kommunikation, Umgang mit Belastung und Motivation. Das Thema der Augenhöhe ist für diese jungen Menschen unfassbar wichtig.

Wie können Ausbilderinnen und Ausbilder daran anknüpfen?

Zunächst sollten Ausbildende anerkennen, dass jeder Azubi anders ist – fachlich, emotional, sozial und motivational. Dieses zunächst kryptische Konzept der „Persönlichkeit“, welches individuell in jedem Menschen schlummert, entscheidet, wie Aufgaben angegangen werden, wie Konflikte bewältigt werden, wie Lernmotivation entsteht, wie Teamarbeit funktioniert und wie Veränderungen bewertet werden. Früher waren einheitliche Lösungen für komplexere Probleme leichter zu finden und zu platzieren. Doch jetzt haben wir diese individuelle Perspektive: Als studierter Psychologe empfehle ich den Ausbildungsverantwortlichen ein strukturiertes Kompetenz- oder Persönlichkeitsmodell für den Arbeitskontext einzusetzen, um mögliche Stärken und Entwicklungsfelder sichtbar zu machen und die Anforderungen des Berufs damit abzugleichen. Daraus lassen sich klare, individuelle Maßnahmen ableiten, wie Trainings, Coachings, Lerninhalte oder begleitete Praxiserfahrungen.

Auf der anderen Seite, und das möchte ich ebenfalls ansprechen, müssen diese jungen Menschen zu einem notwendigen Grad in die konservativeren Strukturen am Arbeitsplatz eingegliedert werden, damit überhaupt generationsübergreifend zusammengearbeitet werden kann. Also müssen die Ausbildungsverantwortlichen ernsthaft abwiegen: Wie viel Individualität können wir zulassen und um welchen minimalen Grad müssen wir die jungen Menschen kollektiv formen? Und dann kommt auch schon die nächste Frage: Um welchen Grad lassen sich die einzelnen Auszubildenden überhaupt formen? Das können Verantwortliche dann nur mit einer Menge Menschenkenntnis im individuellen Fall entscheiden.

Für jeden Azubi einen individuellen Entwicklungsplan zu erstellen, klingt sehr anspruchsvoll…

Ja, der Aufwand steigt. Eine Ausbildung nach dem Motto „one size fits all“ wird künftig nicht mehr funktionieren. Von diesem Konzept dürfen wir uns verabschieden. Unternehmen, die Individualisierung als festen Bestandteil in ihrer Ausbildungskultur verankern, steigern ihre Attraktivität und Mitarbeiterbindung. Junge Menschen werden sich künftig für die Unternehmen entscheiden, die über die cooleren Ausbildungsstrukturen verfügen, und die besonders coole Ausbildungsverantwortliche haben, die auf ihre Persönlichkeit eingehen. Ausbildungsbeauftragte, die sich noch ein paar zwischenmenschliche Kompetenzen wie Führungsskills oder Konfliktmanagement antrainieren wollen, sollten das möglichst zeitnah angehen.

Apropos Sozialkompetenz: Was die junge Generation angeht, existieren jede Menge Eindrücke und Mythen. Gib mir dazu gerne mal eine allgemeine Einschätzung zu den Alphas.

Ich gehe hier wieder mit einem plakativen Vergleich rein. Früher bei den Babyboomern war ein kollektiver Zusammenhalt mit einem gemeinschaftlichen Selbstverständnis der Status quo. Wenn einer im Dorf etwas ausgefressen hatte, hat die ganze Clique die Füße still- und die Klappe gehalten. Heutzutage wachsen die Kinder nicht mehr in diesem Ausmaß in einem sozialen Kollektiv auf, sondern verbringen einen größeren Teil mit ihrer persönlichen Selbstfindung durch individuelle Interessen und Medieninhalte. Dahingehend sind die Alphas auch im Face-to-face-Kontakt nicht mehr ganz so kompetent. Ich meine das nicht wertend, sondern ganz pragmatisch.

Wir sprechen beispielsweise bei der Generation Z jetzt schon von einem Phänomen wie dem sog. Gen-Z-Stare, welches ich ebenfalls regelmäßig in meinem Kontakt mit der Zielgruppe erlebe. Ich erkläre etwas, frage oder beantworte eine Frage, und die jungen Leute starren mich mit einem monotonen, nichtssagenden Blick an, als hätten sie sich zu Stein verwandelt. Das hat keine bösartige Absicht, sondern ist darauf zurückzuführen, dass die jungen Menschen zunehmend mediale und weniger soziale Freizeitgestaltung wahrnehmen. Soziale, zwischenmenschliche Fähigkeiten wie eine situationsbezogene Mimik werden im medialen Raum weniger regelmäßig trainiert. Dadurch sind die jungen Berufseinsteigenden ebenfalls nicht ganz so souverän, wenn es um das eigene Präsentieren geht, sei es in beruflichen oder allgemein in neuen Situationen. In Gen-Z-Sprache würde man den Begriff „socially awkward“ (dt. sozial ungeschickt) verwenden.

Mein Appell an alle Ausbildungsverantwortlichen lautet dahingehend: Wenn die neue Generation bei Ihnen ins Unternehmen kommt, beachten Sie bitte, dass Sie die jungen Menschen noch nicht zu früh in Schubladen stecken. Bedenken Sie, dass sich die Berufseinsteiger noch fortlaufend entwickeln. Die meisten Azubis, die anfangs zu Ihnen ins Unternehmen kommen, werden am Ende ihrer Ausbildung deutlich angepasster und kompetenter sein!

Was ist dein abschließender Rat an Ausbildungsbetriebe?

Die späten Jugendjahre sind immer noch eine Phase persönlicher Entwicklung. Das Gehirn ist bei den jungen Menschen immer noch besonders adaptiv, und ihre Verhaltensweisen und Eigenschaften verändern sich immer noch deutlich von Tag zu Tag. Ich empfehle, das Ganze eher progressiv als defizitär aufzufassen. Ausbilderinnen und Ausbilder haben es in der Hand, die Persönlichkeiten und Kompetenzen durch entsprechende Strukturen im Unternehmen zu prägen. Darin liegen eine Menge Chancen! Sie können den Auszubildenden helfen, sich selbst beruflich zu entwickeln. Nicht nur, weil die Alphas Individualisierung erwarten, sondern weil die Unternehmen damit auch Bewerbende gewinnen können, die noch nicht perfekt ins Anforderungsprofil passen. Und das möchte ich in diesem Kontext auch nochmal mit Nachdruck sagen: Individualisierung ist kein Zusatz mehr, sondern ein zentrales Instrument moderner Ausbildungskultur.

Vielen Dank für das Gespräch!


Über den Interviewpartner

Tom Thienelt ist seit Sommer 2024 für die INFO GmbH und die INFO Trainings- und Beratungs-GmbH als Juniortrainer tätig. Zudem begleitet er freiberuflich als psychologischer Coach und Trainer junge Menschen in ihren individuellen Lebenssituationen. Seine Themenschwerpunkte liegen in der erfolgreichen Kommunikation im unternehmerischen und individuellen Kontext, Selbstmanagement, Körpersprache und Wirkung, sowie Stresscoping und psychische Gefährdung und Belastung (u. a. Suchtintervention). Als Mitglied der jungen Generation Z (Jhg. 2001) verfügt er darüber hinaus über differenzierte Einblicke in generationenübergreifende Unterschiede.


INFO GmbH – Institut für Organisationen

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